Buchrezension: Das eherne Schwert

Das eherne Schwert. Jenes legendäre, schier unüberwindliche Gebirge, das seit jeher die natürliche Ostgrenze des aventurischen Kontinents bildet. Eine lebensfeindliche Zone, in die sich nur die mutigsten Helden aufmachen, von denen auch nur die wenigsten zurückkehren. Was führt dann nur zwei junge Diebe aus dem fernen Al'Anfa dazu, ausgerechnet dorthin zu reisen? Unser unerschrockener Rezensent wagt es, sich durch die Seiten des ersten DSA-Romans überhaupt zu quälen.



Normalerweise würde an dieser Stelle eine Warnung vor Spoilern stehen. Darauf kann man aber bei diesem Werk getrost verzichten. Bei keinem anderen Buch der langen Reihe an DSA-Romanen braucht man so wenig Angst zu haben, dass irgendwelche aventurischen Hintergrundinformationen oder gar spannende Plot-Elemente verraten werden könnten...

Gute Ausgangslage

Wir schreiben das Jahr 1985. Gerade hat das neue Rollenspiel-System "Das schwarze Auge" durch Fernsehwerbungen, Mundpropaganda und durch die pure Marktmacht des Brettspiel-Giganten Schmidt Spiele den Weg in die deutschen Kinderzimmer gefunden. 100.000 Basis-Boxen in einem Jahr - eine ausreichende Kundenbasis ist also vorhanden. Da hat der, ebenfalls an DSA beteiligte Droemer Knaur Verlag, die tolle Idee, einen ersten aventurischen Roman zu veröffentlichen.

Leiter der Roman-Reihe sollte Werner Fuchs werden, seines Zeichens einer der drei Gründerväter von Das Schwarze Auge, und als Germanist, Autor, Lektor, Buchhändler und Übersetzer auch wie geschaffen für den Job. Als erster Autor konnte Andreas Brandhorst gewonnen werden, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren einen Namen als Autor und Übersetzer machen konnte. Eigentlich ganz gute Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einstieg in die DSA-Romanreihe. Sollte man zumindest meinen...

So sahen Fantasy-Romane in den 80ern aus

Der Inhalt

Im Hexenturm von Al'anfa werden die beiden angehenden Diebe Callehain und Medwyn nachts bei einem Stelldichein bei der Tochter der Hexenkönigin ertappt. Trotz gelungener Flucht werden die beiden jungen Missetäter von ihrer Gilde aus Al'anfa verbannt, und dürfen erst zurückkehren, wenn sie den Seelenstein stehlen konnten. Das erste Problem: Der Seelenstein liegt in der Stadt der verschollenen Seelen, irgendwo im ehernen Schwert. Das zweite Problem: Der Seelenstein wird vom Drachen Fuldigor bewacht. Das dritte Problem: Keiner weiß genau, wo die mysteriöse Stadt liegt.

Also machen sich die beiden Diebe daran, erstmal in den Tempel des Totengottes Visar einzubrechen, um dort in der Kammer des Magiers Gilburian einen Blick in ein schwarzes Auge zu werfen, das ihnen den Weg zur verschollenen Stadt weisen soll. Dank eines mysteriösen Amuletts, das Callehain von einer jungen Hexe erhalten hat und das ihn vor Gefahren warnt, gelingt es ihnen, dem Magier sein schwarzes Auge und den Magierstab zu stehlen und mit einem Schiff zu entkommen.

Der oberste Visar-Geweihte Dharag schickt den beiden angehenden Phex-Geweihten einen Diener Visars, einen Myr, hinterher, der die beiden finden und stoppen soll. Das hindert sie aber nicht, sicher durch weitaus mehr Glück als Verstand von Gefahr zu Gefahr zu hangeln und sich so immer mehr dem Ziel der Reise zu nähern. Insbesondere der erratische Einsatz des Zauberstabes durch den ebenso erratischen Medwyn rettet die Diebe das ein oder andere Mal aus schier ausweglosen Situationen.

Unterdessen wird dem Leser nach und nach der Plan der Hexenkönigin offenbart, die Dharag in einen Krieg gegen die Länder des Südens treiben will. So ganz durchdacht scheint ihr Plan aber nicht zu sein, wie sie schon bald feststellen wird. Unsere unwilligen Helden erreichen schließlich ihr Ziel, die Stadt der verlorenen Seelen, wo eine letzte Falle der Hexenkönigin auf sie wartet... Werden sie es schaffen, dem drohenden Unheil zu entkommen?

Das andere Aventurien

Wer als aufmerksamer Aventurien-Kenner die obige, sehr oberflächliche Zusammenfassung studiert hat, wird hoffentlich schnell seine Stirn in verwunderte Falten legen. Hexenkönigin? Totengott Visar? Diebesgilde? Stadt der verlorenen Seelen? Allmächtige Amulette und Zauberstäbe? Seelensteine?

Ja, in Andreas Brandhorsts Aventurien gibt es all das, und noch viel mehr, was bei langjährigen DSA-Spielern für Verwunderung sorgen dürfte: Die Gilden der Quäler, Märtyrer und Meuchler. Schattenlords und Mahre hinter der Bernsteinbucht. Die Todesjünger von Bjaldorn. In Türmen lebende Hexen. H'Rabaal ist eine Stadt in riesigen Urwald-Bäumen, Gareth hat einen König, die Bewohner der Sumpfstadt Baburin beten jeden Tag einen Golem an. Magie kann jeder Depp wirken - Hauptsache, er hat einen Zauberstab und kann sich schöne Reime ausdenken. Den Totengott Visar kann man einfach kurz betend anrufen, damit er erscheint und dem Anrufer 100 weitere Lebensjahre schenkt - zumindest wenn Visar gut drauf ist! Gesindekriege, Feuerteufel, Poten, Parias... die Liste der Brandhorstschen Eigenkreationen ließe sich unerträglich lang fortsetzen.

Nun lässt es sich aus der heutigen Perspektive, mit einer seit 32 Jahren höchst lebendigen Weiterentwicklung der Spielwelt Aventurien, natürlich leicht über diese nicht-kanonischen Elemente lächeln. Und viele mögen dem Autor die teils sehr eigenwilligen und skurilen Ideen verzeihen. Schließlich war Aventurien zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel mehr als eine auf einem Wohnzimmertisch aufgezeichnete Landkarte mit ein paar Dutzend Ortsnamen. Tatsächlich mag es manchen DSA-Spieler geben, der den deutlich mehr auf High-Fantasy ausgerichteten Ansatz gegenüber dem oft arg "hotzenplotzschen" Kiesowschen Aventurien bevorzugen würde.

Das Problem

Das mag alles sein - aber dennoch muss sich der Autor einige Vorwürfe machen lassen. Zuallererst hätte Brandhorst seiner Fantasie gar nicht soviel freien Lauf lassen müssen: Wie es scheint hatte er von Seiten des Verlags bzw. der Redaktion einige klare Vorgaben, was den Verlauf der Geschichte und das Aussehen Aventuriens angeht. Wie der Autor in einem Interview freimütig zugab, hatte er aber gar keine Lust sich an diese Vorgaben zu halten:
Das war meine erste Auftragsarbeit. Das Lustige dabei: Man gab mir genaue Vorgaben, an die ich mich überhaupt nicht gehalten habe. Ich schrieb einfach, was ich wollte. Es ist ein ganz netter Unterhaltungsroman herausgekommen.
Und genau da liegt das Problem: Wer eine Auftragsarbeit annimmt, und dann etwas völlig anderes abliefert, hat seine Arbeit einfach nicht richtig gemacht. Eigentlich nichts, was man besonders lustig finden sollte. Vielleicht hätte statt eines "ganz netten Unterhaltungsroman" etwas richtig Gutes herauskommen können. Besonders wenn man sich die vielversprechende Zusammenfassung der nicht genutzten eigentlichen Geschichte auf der ersten Seite des Buches durchliest.
Für Erik Rolingshoff, einen jungen Burschen aus Perricum, beginnt das Abenteuer seines Lebens, als sein Onkel Feder ihn zum erstenmal auf große Fahrt nach Norden mitnimmt. Ziel ihrer gefahrvollen Seereise durch den Golf von Perricum und das Ostmeer ist die Hafenstadt Neersand an der Mündung des Walsach. Neersand ist der Häuptumschlagplatz für Felle, Flußopale, Eisenholz und andere Schätze des hohen Nordens, und Feder Rolingshoff treibt seit langem regen Handel mit den Nomaden, die sich einmal im Jahr dort einfinden, um ihre Waren einzutauschen. 
Aber diesmal bleiben die Walagen, seine besten Zulieferer, aus. Wohl oder übel muß Feder Rolingshoff dem Walsach flußaufwärts bis in das Gebiet dieses Stammes folgen. Und dort, am Fuße des ehernen Schwerts, jener unüberwindlichen Gebirgskette, die Aventurien nach Nordosten abgrenzt, geschehen seltsame Dinge, die nicht nur das Städtchen Notmark bedrohen, sondern die ganze Provinz in einen eisigen, magischen Bann zu ziehen scheinen ...
Ist vielleicht Geschmackssache, aber für mich klingt das nach einer interessanten ersten Reise in die Tiefen des Bornlands. Ein widerwilliger Hauptcharakter, der fremde Länder und Landschaften durchreist, auf fremde Kulturen trifft (die Wallagen klingen nach einer frühen Version der Nivesen oder Norbarden) und hinter ein düsteres magisches Geheimnis kommen muss.

Die leider nicht genutzte ursprünglich geplante Version der Geschichte

Eine uralte magische Macht aus dem ehernen Schwert, die Notmark bedroht? Kommt einem das nicht merkwürdig aktuell vor? Hätte die Theaterritter-Kampagne schon 30 Jahre früher beginnen können?

Man kann nur mutmaßen, was bei einem Erfolg des Buches aus der angedachten Buchreihe hätte werden können. Stattdessen stampfte Droemer Knaur alle Ambitionen für weitere Bücher ein und stieg wenig später aus der Zusammenarbeit mit Schmidt Spiele aus. Es sollte noch 10 Jahre dauern, bis die DSA-Buchreihe (mit Ausnahme des Einzelromans Die Gabe der Amazonen und der Anthologie Mond über Phexcaer) mit Der Scharlatan einen würdigen Neustart erhielt.

Das Buch als Buch

Na gut, dann ignorieren wir doch mal all die verpassten Chancen, die fehlende Werktreue, die Widersprüche zum Kanon. Betrachten wir das eherne Schwert einfach als generischen Fantasy-Roman in irgendeiner Parallelwelt von Aventurien. Kann das Buch wenigstens als literarisches Werk überzeugen?

Leider sind auch da die positiven Aspekte mit der Lupe zu suchen. Sicherlich, vom ersten Kapitel an wird ein hohes Tempo vorgelegt, die Protagonisten fliehen aus dem Turm der Hexen, aus dem Visartempel, aus Al'anfa; kämpfen gegen Stürme, Meeresungeheuer, Goblins, den Myr und Fuldigor. Für tiefe Charakterstudien bleibt da keine Zeit, die Charaktere bleiben eindimensional und langweilig.

Wer auf Seite 10 den Eindruck gewonnen hat, dass es sich bei Medwyn um einen infantilen, selbstüberschätzenden, nervigen Tollpatsch handelt, der der Geschichte die nötige Prise Humor geben soll, hat schon alle Charaktereigenschaften durchschaut. Mehr kommt bis zum Ende des Buches nicht. Charakterentwicklung? Fehlanzeige!

Auch der "Held" Callehain macht keinerlei Veränderung durch: Von Anfang an muss er das von Medwyn verursachten Chaos ausbaden, rennt von äußeren Umständen getrieben durch die Geschichte, hat keinen erkennbaren eigenen Willen oder gar Persönlichkeit. Nichtmal im finalen Kampf gegen den Myr übernimmt er wirklich die Initiative - dass beide bis zum Ende überleben ist stets das Resultat von glücklichen Zufällen und Fügungen.

Die Bösewichte sind auch nicht viel besser ausgearbeitet: Die Hexenkönigin Cherinne bezirzt den Visar-Hochgeweihten Dharag, um ihn in einen Krieg zu treiben, und dann hinter seinem Rücken die Macht in Al'anfa zu übernehmen. Durch einen einzelnen Boten, der es schwer verletzt bis zu Dharag schafft und ihm von dem Putsch berichtet, bricht der Plan wie ein Kartenhaus in sich zusammen und Cherinne büßt mit ihrem Leben. So richtig durchdacht scheint ihr Weltbeherrschungsplan wohl nicht gewesen zu sein...

Der um sein schwarzes Auge und seinen Zauberstab beraubte Magier Gilburian erinnert mit seinem ständigen Gejammer stark an Großmaester Pycelle aus Game of Thrones. Mehr Aufgaben als zu jammern hat er in der Geschichte nicht. Und der ach-so-gefährliche Myr, der Gegner beliebig durch Blitze pulverisieren kann, unendliche Ausdauer besitzt und die persönliche Hilfe von Totengott Visar hat, schafft es nicht unsere beiden tumben Protagonisten rechtzeitig einzuholen.

Man sollte meinen, dass bei all der fehlenden Charakterentwicklung wenigstens etwas Zeit für die Umgebung, für detaillierte Beschreibungen der Landschaft, der Städte, des namensgebenden Gebirges übrig bleiben sollte. Leider falsch gedacht. Brandhorst scheint sich selbst nicht an derartige Fluff-Texte heranzutrauen und versteckt sie hinter trockenen Fußnoten, die oft nichtssagend, manchmal skuril, selten hilfreich und niemals interessant sind. Ganz furchtbar sind die eingestreuten Zitate, die aus vermeintlichen aventurischen Quellen stammen sollen, und die selten über die Tiefgründigkeit eines Poesiealbumspruchs hinauskommen.

Einer der "tiefgründigen" Fluff-Texte

Das Fazit

Wer sich, wie ich, das Ziel gesetzt hat, einmal alle DSA-Romane zu lesen, kommt um Das eherne Schwert leider nicht herum. Als erster Roman in Aventurien hatte er das Potential, den Auftakt zu einer spannenden und lang laufenden Buchreihe zu werden. Leider wurde dieses Potential, insbesondere durch die Entscheidung des Autors, alle Hintergrund-Vorgaben zu ignorieren, komplett vergeudet.

Was bleibt ist ein anstrengender Trivial-Roman in einem generischen Fantasy-Setting, das bis auf die ausgesprochen exakten Ortsangaben (der Autor hat sich immerhin an die bereits vorliegende Aventurien-Karte gehalten) nichts mit der uns heute bekannten und geliebten DSA-Welt zu tun. Die Charaktere sind platt, infantil, unsympathisch, die Handlung ist linear und uninteressant. Wann immer die Helden in einer ausweglosen Situation sitzen, wird als Deus-ex-Machina der unsägliche Zauberstab mit einem ebenso unsäglichen Reim aktiviert, und schon geht die Geschichte weiter. Wenn der Autor keine eigenen Ideen mehr hat, greift er schnell zu alten Mythen und Sagen, wirft mit Zauberspiegeln, Sirenen, Mumien, Meeresungeheuern und weisen alten Männern auf Berggipfeln um sich. Im Jahre 1985 mag das noch üblich gewesen sein - heute hingegen ist es sehr anstrengend sowas zu lesen.

Den letzten Satz des Buches empfinde ich als persönliche Drohung

Zuletzt muss man sich also die Frage stellen, ob man sich dieses (Mach-)Werk antun sollte. Ich meine, man muss schon ein sehr eingefleischter Komplettist sein, um sich dieses Buch in den Schrank zu stellen oder sich gar hindurch zu quälen. Vielleicht möchte man auch selbst erfahren, ob das Buch wirklich so schlimm ist wie alle behaupten. Nachdem ich die (den Zwölfen sei Dank) kurzen 206 Seiten über mich habe ergehen lassen, kann ich sagen: Ja, es ist schlimm. Aber man kann es sich mit der nötigen Leidensfähigkeit durchaus mal antun - wenn auch nur, um die anderen Romane und die DSA-Hintergrundwelt insgesamt mal wieder richtig schätzen zu lernen.

Jetzt weiß ich endlich, warum das eherne Schwert in Aventurien als schier unüberwindliches und nur von den Tapfersten der Tapferen bezwingbares Hindernis angesehen wird...

Das Buch "Das eherne Schwert" von Andreas Brandhorst ist in seiner einzigen Auflage vergriffen und nur noch antiquarisch (z.B. bei eBay, Medimops oder reBuy) verfügbar.

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